Als Fahrschule sind wir in Bern und Umgebung täglich unterwegs. Dabei fällt auf, wie viele Verkehrsteilnehmende hektisch, gestresst und genervt die Strassen mit uns allen teilen.
Die gängigsten Szenarien? Sobald die Ampel auf grün wechselt das Gaspedal durchdrücken um 30 Meter weiter ebenso energisch auf die Bremse zu treten, so nahe auffahren, dass man eine Briefmarke zwischen die beiden Stossstangen klemmen könnte und natürlich die drei Freunde: Vortritt stehlen, Personen zu Fuss ignorieren und durchzogene Fahrradstreifen abklemmen.
Jedes einzelne dieser Verhalten ist unsinnig. Wie unsinnig lässt sich leicht mit ein paar Zahlen aufzeigen:
Geschwindigkeit
Nehmen wir die Strecke Mattenhof > Lorraine. 3.1km innerorts, also maximal 50km/h. Laut Google Maps schafft man die Strecke an einem Mittwoch Nachmittag um 17:00 in 11 Minuten. Aufgrund all’ der Daten die Google zur Verfügung stehen, können wir davon ausgehen, dass die Schätzung nahe am Durchschnitt ist.
Ohne Ampeln, Kurven,.. wäre es möglich, die Distanz in ~2.6 Minuten zu schaffen. Wenn man nicht komplett unberechenbar ist, und “nur” ~10km/h über dem Tempolimit fährt (also 60km/h), könnten im optimalen Szenario etwa 30 Sekunden gespart werden.
Kurz überschlagen und aufgerechnet kann diese höhere Geschwindigkeit daher durchaus attraktiv aussehen: bei 11 Minuten für 3.1 Kilometer (Durchschnittsgeschwindigkeit ~17km/h), ergibt sich bei einer 20% höheren Geschwindigkeit (20.4km/h) eine Ersparnis auf der zuvor genannten Strecke von fast 2 Minuten (Fahrzeit: 9.1 Minuten).
Verschiedene Studien [0] zeigen jedoch, dass ~20% der Reisezeit an Ampeln verbracht wird, womit wir bei 8.8 Minuten reiner Fahrzeit wären. Dies entspricht einer durchschnittlichen Geschwindigkeit (für die 3.1 Kilometer) von 20km/h. Bei 24km/h wäre die reine Fahrzeit 7.75 Minuten. Der Zeitgewinn, auf Papier: 8 Minuten 48 Sekunden – 7 Minuten 45 Sekunden = ~1 Minute.
Da der gesamte Verkehrsfluss sich jedoch nicht schneller bewegen wird nur weil man selbst 20% schneller fährt, ergibt sich daraus auch kein Zeitgewinn [1]. Bloss eine schnellere Überbrückung der Strecke bis zur nächsten Ampel, höherer Treibstoffverbrauch, eine höhere Unfallgefahr [2] und ein mühsameres Fahrerlebnis für Mitfahrende 😊
Fazit
Schnelles Anfahren gefolgt von abrupter Bremsung reduziert die Gesamtzeit kaum, hat aber erhebliche Risiken und macht den/die Verkehrsteilnehmer:in unberechenbarer.
Nicht zu vergessen: grüne Wellen sind ein Ding. Angepasste Fahrweise im Strassenverkehr, sich “im flow” bewegen, ist nachhaltiger, führt zu weniger Stress, kleinerem Unfallrisiko und einer entspannten Ankunft am Ziel.
Abstand
Aus dem Knigge des ASTRA entnehmen wir:
Abstand bedeutet Sicherheit. Wenden Sie als Minimum die Zwei-Sekunden-Regel an oder halten Sie den halben Tachowert in Metern als Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug ein. Vergrössern Sie diesen Abstand bei schlechten Wetter- und Sichtverhältnissen.
https://www.astra.admin.ch/astra/de/home/themen/nationalstrassen/baustellen/wissenswertes/knigge/grundregeln.html#-619258167
Und natürlich gilt es auch in der Stadt genügend Abstand zu wahren. Enges Auffahren an Ampeln kann dazu führen, dass das Fahrzeug vor einem durch unbeabsichtigtes Rückwärtsrollen einen Auffahrunfall verursacht. Die Zeit den Unfall abzuwickeln ist überproportional Grösser, als die wenigen Zentimeter die man meint gewonnen zu haben. Zudem erlauben Abstände anderen Verkehrsteilnehmenden eine bessere Übersicht und ermöglichen vorausschauendes Fahren.
Das bfu hat in diesem Zusammenhang ein paar Interessante Beispiele aus der Rechtsprechung:
Blosser Abstand von fünf bis sechs Metern zum vorausfahrenden Fahrzeug beim Befahren einer Kreuzung innerorts. Einfache Verkehrsregelverletzung durch Hintereinanderfahren mit zu geringem Abstand
https://www.bfu.ch/de/services/gerichtsentscheide/blosser-abstand-von-5-6m-zum-vorausfahrenden-fahrzeug-beim-befahren-einer-kreuzung-innerorts-einfache-verkehrsregelverletzung
Auf der Kantonsstrasse mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h gefahren und plötzlich brüsk gebremst, um einen Zusammenstoss mit zwei Tieren zu verhindern, welche die Fahrbahn überquerten. Dann kam es zu einem Auffahrunfall mit dem nachfolgenden Fahrzeug. Gemäss Gericht muss der Nachfolgende jederzeit mit einer Vollbremsung des Vorausfahrenden rechnen. Deshalb ist immer ein genügender Abstand einzuhalten.
https://www.bfu.ch/de/services/gerichtsentscheide/der-nachfolgende-muss-jederzeit-mit-einer-vollbremsung-des-vorausfahrenden-rechnen-deshalb-ist-immer-ein-genuegender-abstand-einzuhalten
Nicht zu vernachlässigen ist zudem die (abnehmende) Reaktionszeit. Mit zunehmendem Alter verdoppelt sich diese – und obwohl man selbst vielleicht denkt, dass die eigene Reaktionszeit wahnsinnig tief sei, kann man nicht davon ausgehen, dass dies automatisch bei allen Verkehrsteilnehmenden auch der Fall ist. Die Diplomarbeit von Angela Kogler zu Müdigkeit und Reaktionszeit [3] enthält beeindruckende Ergebnisse dazu.
Vortritt
Oder auch: menschenwürdiger Umgang
Die meisten von uns mögen es, wenn wir zuvorkommend und gerecht behandelt werden. Uns den Vortritt gewähren? Super. Uns als Fussgänger:in zulächeln und über die Strasse winken? Wundervoll.
Nebst diesen, zugegebenermassen schwachen, Gründen dafür Menschen Vortritt zu gewähren, gibt es doch einige schwerwiegendere, die darauf aufbauen:
Vortritt zu gewähren bedeutet den Verkehr und die Verkehrsteilnehmenden wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung fördert vorausschauendes Fahren, und diese beiden Elemente in Kombination führen direkt zu weniger Unfällen.
Der Zeitgewinn vor einem:einer Fahrradfahrer:in noch kurz um die Ecke zu brausen ist im Vergleich mit dem Risiko die (schlecht geschützte) Person erheblich zu verletzen eine unsagbar schlechte Optimierung. Als Fahrradfahrer:in nicht am Fussgängerstreifen zu halten und die Menschen passieren zu lassen ebenso.
Quintessenz
Unsere Fortbewegungsmittel, seien es Autos, Velos, Motorräder, Roller, Rollschuhe oder auch einfach unsere Füsse, sind dazu da uns von A nach B zu bringen. Sich zu nerven, zu stressen oder zu denken dass die Strasse nur einem selbst gehöre ist unnötig. Schliesslich ist ja auch der Weg ein Teil des Ziels.
Daher: Fahrt ruhig und entspannt, nehmt Rücksicht aufeinander (und auf die Umwelt) und geniesst die Zeit unterwegs.
Quellen
[0] https://transportist.org/2018/03/06/how-much-time-is-spent-at-traffic-signals/
[1] https://controlaltbackspace.org/math/does-speeding-make-sense/
[2] https://www.bfu.ch/media/zkbloooi/2020-12-18_tempo_30_fakten_de_fin.pdf
[3] https://online.medunigraz.at/mug_online/wbAbs.getDocument?pThesisNr=62587&pAutorNr=&pOrgNr=14010